In Darstellungen der Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur wird der Kampf der Jugendschützer und Befürworter des guten Jugendbuches gegen Schmutz und Schund (primär in Form des abenteurlichen Heftromanes) meist nur mehr am Rande erwähnt und eher als Kuriosum angesehen. Das wird diesem Phänomen bei weitem nicht gerecht. Denn die Auseinandersetzung nahm zeitweise die Form eines Kulturkampfes an und war nicht bloß das Agieren wildgewordener Jugendschützer, sondern hat vielfache Ursachen, die es wert sind näher untersucht zu werden.
Es ging nicht nur um ein paar Jugendliche, die Schundhefte lasen, sondern es war durchaus ein quantitatives und damit auch wirtschaftliches Problem. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Aber von einzelnen Heftserien werden Auflagenzahlen bis zu 60.000 pro Titel berichtet. Auch aus dem heute noch in Sammlerkreisen und Antiquariaten vorhanden Bestand, läßt sich schließen, dass diese Zahl nicht übertrieben ist. Berücksichtigt man die relativ kurze Erscheinungsfrequenz und die zahlreichen beliebten Serien, kann man schätzen, dass es Monate gegeben haben muß, in denen die Gesamtauflage der Romanhefte 100.000 deutlich überschritt. Umgerechnet auf ein Jahr ergibt das eine geschätzte Gesamtauflagenzahl zwischen 500.000 und 1.000.000. Etwa ab 1952 ist zwar ein starker, kontinuierlicher Rückgang in der österreichischen Romanheftproduktion zu bemerken, der aber durch Romanheftserien, die jetzt aus Deutschland kamen, teilweise kompensiert wurde. Selbst wenn man die Zahlen nach unten korrigiert, ergibt sich für die ersten fünf und bis acht Jahre nach dem Krieg eine für den relativ kleinen österreichischen Markt erstaunlich hohe Verbreitungsdichte der Romanheftliteratur. Dazu kommt, dass diese Hefte meist von mehreren Personen gelesen wurden und in sogenannten Romangeschäften um wenig Geld getauscht werden konnten. Auch hier fehlen genaue Zahlen, es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Geschäfte in denen man Romanhefte tauschen konnte, im Wien der 50er- und 60er Jahre dreistellig war. Die Verbreitungsdichte wurde dadurch in Relation zur Auflagenstärke vervielfältigt.
Daraus entstand für das traditionelle Verlagswesen, das sich nach den Kriegsereignissen zu erholen und neu zu organisieren begann, eine Situation in der große potentielle Käuferschichten ein Leseverhalten entwickelten, das dem Buchhandel nur abträglich sein konnte. Obwohl es meistens nicht erwähnt wird: Der Kampf gegen Schmutz und Schund hatte natürlich auch einen wirtschaftlichen Aspekt. Für die Buchverlage war es eine Notwendigkeit, das Unkraut, das sich da in ihrem Garten breitgemacht hatte, möglichst rasch auszurotten. Den Erwachsenen konnte man nicht vorschreiben, was sie lesen sollten, obwohl man das auch gern gemacht hätte, bei Kinder und Jugendlichen bestanden da mehr Möglichkeiten und auch eine größere Notwendigkeit, weil der Kinder- und Jugendbuchsektor besonders betroffen war.
In den ersten Jahren nach dem Krieg stagnierte die Produktion auf dem Kinder- und Jugendbuchsektor, wodurch sich ein Marktlücke öffnete. Das Leseverhalten des jungen Publikums war damals ein anderes als heute. Was eine richtige Leseratte war, verbrauchte pro Woche locker ein Buch, und gelesen wurde alles, was irgendwie interessant war.
Das vorhande Titelangebot an entsprechenden Büchern war bald erschöpft. Die Bücher waren für die damaligen Verhältnisse zudem recht teuer und die Wartezeiten für begehrte Titel in den öffentlichen Leihbibliotheken oft beträchtlich. Was sollte man jetzt also lesen?
In diese Marktlücke stießen die drei großen Kinderzeitungen der frühen Nachkriegszeit (Kinderpost, Wunderwelt und Unsere Zeitung), die preiswert, teilweise durchaus qualitätsvolle Kinderliteratur im Zeitungsformat auf den Markt warfen. Für die als erste (ab Dezember 1945) erscheinende Kinderpost wird eine Auflagenzahl zwischen 1946 und 1949 von 250.000 pro Ausgabe berichtet. Obwohl die Kinderpost später Marktanteile an ihre Mitbewerber abgeben musste, schätze ich dass um 1950 die Gesamtauflage der drei großen Kinderzeitungen bei einer 14- tägigen Erscheinungsfrequenz pro Monat um 500.000, möglicherweise sogar höher lag. Dazu kam, dass viele ältere Kinder und Jugendliche mangels anderer Abenteuerlektüre zu den Romanheften griffen und wegen des spannenden Inhaltes und der einfachen Handlungsstrukturen durchaus Gefallen an diesen Erzeugnissen fanden. Den Kinderzeitungen konnten die Buchverlage trotz einiger Kritik an den angeblich 'seichten' Inhalten nicht wirklich viel anhaben. Die Heftromane boten dagegen eine breite Angriffsfläche. Man trachtete einerseits sie vom Markt zu verdrängen und sie andererseits als propagandistischen Gegenpol zum 'guten' Jugendbuch hochzustilisieren. Je mehr man auf die Gefahren hinwies, die von diesen Erzeugnissen ausging, um so gerechtfertigter war es, die 'guten' Bücher der Verlage mit offizieller Unterstützung in der Öffentlichkeit und vor allem in den Schulen zu propagieren und ihren Ankauf geradezu als pädagogische Notwendigkeit hinzustellen.
Kurz nach dem Krieg ging es darum, die politische Macht in Österreich neu zu verteilen. Die großen politischen Kräfte, Sozialisten, Christlich-Soziale und damals auch noch die Kommunisten sicherten sich schon kurz nach Kriegsende den Einfluss auf Verlage und Druckereien, um ihre Weltanschauungen unters Volk zu bringen. Die Jugend wurde in großen parteinahen Jugendorganisationen zusammengefasst, die in ihrer Blütezeit unglaublich hohe Mitgliederzahlen hatten. Natürlich bestand der Wunsch, dass die Jugend das las, was die parteinahen Verlage auch auf dem Gebiet der Jugendlektüre produzierten. Schöne Beispiele sind 'Unsere Zeitung', die Kinderzeitung des kommunistischen Globusverlages oder 'Freundschaft', die Kinderzeitung der Sozialisten, später auch die Bücher des (den Sozialisten nahestenden) Verlages Jungbrunnen. Es ging darum, die Jugend weltanschaulich zu fixieren. Es verwundert daher nicht, dass alle politischen Kräfte im Kampf gegen Schund und Schmutz einig waren. Vergessen wir nicht: Trivialliteratur ist ein negativ besetzter Ausdruck für in aller Regel unpolitische, anspruchslose Unterhaltungsliteratur, die damit auch aus Sicht parteiideologischer Propagandisten sinn- und wertlos ist. Bezeichnet man Trivialliteratur zusätzlich als Schmutz und Schund, wird das negative Werturteil verstärkt und der nutzlosen Literatur auch noch eine für das Volk schädliche Wirkung zugeschrieben. Ein Argument, dass in weiterer Folge zensorische Maßnahmen durchaus gerechtfertig erscheinen lässt. Und dazu ist es letzlich ja auch mit Zustimmung der im Nationalrat vertretenen Parteien gekommen.
Dahinter stand ein parteiübergreifender volkserzieherischer Gedanke, der auch das Freizeitverhalten der Bevölkerung in wünschenswerte Bahnen lenken wollte und von obrigkeitsstaatlichen Tendenzen getragen wurde, so wie man sie in den vergangenen Jahrzehnten als selbstverständlich erlebt hatte. Schlagworte wie 'mündige Staatsbürger' oder 'kritische Jugend' hatten damals noch keinen Stellenwert.
Ich vermute, dass sich im Kampf gegen Schmutz und Schund auch der Beginn eines Generationenkonfliktes wiederspiegelt. Man darf ja nicht übersehen, dass es nicht nur allein um den trivialen Heftroman ging, sondern auch um Filme und später um Comics und Jugendmagazine, deren 'Starkulte' besonders angeprangert wurden. Die Jugend begann sich zuerst fast unmerklich, dann immer rascher von den Konventionen der Kriegsgeneration zu emanzipieren, in Ansätzen bereits eigene Jugendkulturen zu entwickeln und sich vermehrt einem Unterhaltungsangebot zuzuwenden, das keine weltanschaulichen oder erzieherischen Ambitionen hatte. Die Erziehergeneration, die danach trachteten, die Jugendlichen in die tradierten konservativ- hierarchischen Gesellschaftsstrukturen einzubinden, musste diesen Trend mit größter Sorge betrachten. Das gilt auch für die Sozialisten. Die Masse der Parteigenossen hatte- in ideologisch modifizierter Form- ein ausgesprochen konservatives, geradezu kleinbürgerliches Weltbild.
* Schwer zu fassen, aber in der damaligen Diskussion deutlich zu spüren, ist eine weitere gesellschaftliche Komponente. Abenteuerliche Heftromane wurden abgesehen von ihren erwachsenen Konsumenten hauptsächlich von Burschen, Hauptschülern und Lehrlingen gelesen. Gymnasiasten, deren Zahl im Gegensatz zu heute sehr gering war, verachteten die Heftromane meist als schlecht und proletarisch. Hauptkritikpunkt an den abenteuerlichen Heftromanen war, dass durch die Schilderungen von Straftaten im weitesten Sinn die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen erhöht und sie durch Nachahmung in die Kriminalität getrieben würden. Man kann die Angst der älteren, bürgerlichen Gesellschaftsschichten vor den Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu spüren, die sich damals in (meist recht harmlosen) Jugendbanden zusammenschlossen als 'Halbstarke' auf den Straßen herumstreunten und so gar nicht dem Klischee der vergangenen Jahrzehnte von ordentlichen jungen Leuten entsprachen. Im Prinzip ist es auch eine 'Sicherheitsdiskussion' gewesen, ähnlich jener, die heute in Bezug auf die 'Ausländerkriminalität' geführt wird. Mir ist als Beispiel für viele ein Zeitungsbericht in Erinnerung, in welchem von einem arbeitlosen Jugendlichen berichtet wurde, der eine alte Frau beraubt und sich aus der Beute Schundhefte gekauft hatte. Das Bild zu diesem Artikel zeigte als abschreckendes Exempel einen Stoß Heftromane und Comics, die man bei dem Täter vorgefunden hatte. Untermauert wurde diese Nachahmungstheorie durch Beiträge und wissenschaftliche Arbeiten namhafter Psychologen, Ärzte und Pädagogen. Die Diskussion dauert heute noch an, hat sich aber primär auf das Gebiet der Videospiele verlagert und in letzter Zeit sehr an Schwung verloren. Die herrschende Meinung ist zur Zeit, dass die Entwicklung zwar besorgniserregend sei, sich ein sicherer Nachweis für die thematisierten medialen Einflüsse nicht führen lasse. Betrachtet man emotionslos die Entwicklung der letzten hundert Jahre, muss man zu der Erkenntnis kommen, dass sich junge Menschen durch nationalistisches Geschrei weit eher zu Gewalt und Intoleranz hinreissen lassen, als durch die abenteuerliche Darstellung einer wilden Schießerei in einem Medienspektakel- welcher Art auch immer.
Bei aller Vielschichtigkeit der sich überlagernden Interessenlagen wäre es ungerecht, wollte man den meisten Akteuren nicht auch ein hohes Maß an Idealismus zubilligen. Das keineswegswegs auf diese Zeit beschränkte Problem besteht nur darin, dass wohlmeinende Menschen, die von ihren Ansichten überzeugt sind, insbesonders wenn sie zusätzlich religiös motivert werden oder fest daran glauben, zum Wohl des Volkes zu handeln, eine erschreckendes Maß an Intoleranz entwickeln, die sie für völlig gerechtfertigt halten: Das ist das Holz, aus dem dann Zensoren, Bücherverbrenner (gelegentlich samt Autor) und Hexenjäger geschnitzt werden. Und schon jedes Kind weiß: Wenn einer seine Rede mit den Worten beginnt: 'Ich mein es ja nur gut mit dir..', sollte man sich auf Schwierigkeiten gefasst machen.
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Christian Flandera: Dissertation "Schmutz und Schund" | Die Arbeit beschäftigt sich mit den Diskussionen um „Schmutz und Schund" in der sozialdemokratischen und der katholischen Lehrerschaft Österreichs. |